Auf der Kippe
Drei Tage in Folge waren Leo und Keff zum Pilze Suchen im Wald. Zum Glück ohne Erfolg. Am Mittwoch kamen sie mit einem etwas ähnlichen Exemplar zurück, das sich allerdings nach einiger Recherche als Blauer Träuschling entpuppte und nach dem Verzehr auch keinerlei hallunzinugene Effekte zeigte. All unsere Versuche, die beiden von ihrem Vorhaben abzuhalten, waren natürlich zwecklos. Auch Tills grenzwertige Erfahrung damit beeindruckte sie nicht sonderlich.
Tills Stimmung hat sich weiter verdüstert. Es ist nicht schwer zu erraten, woran das liegt. Keff ist nicht zurückhaltend, wenn es darum geht, seine Besitzansprüche deutlich zu machen. Wann immer Leo mit einem von uns spricht, kommt er angeschlurft und legt seinen Arm um ihre Hüfte. Till behandelt er kühl und herablassend. Aber mir gegenüber wirkt er verunsichert, fast als ob er Angst vor mir hätte. Er weiß dass ich Leo länger kenne als er und auch einen Teil von ihr, zu dem er keinen Zugang hat. Manchmal mischt sich fast so etwas wie Mitleid in die Abneigung, die ich ihm gegenüber empfinde.
Gestern Abend musste er abreisen - er habe wichtige Geschäfte in der Stadt zu erledigen. Versprach aber wiederzukommen und Verstärkung für die Pilzsuche mitzubringen. Es war als ob das ganze Haus aufatmete, als er endlich weg war. Aber dann gab es sofort Streit, weil Jin Leo sehr ehrlich und direkt ihre Meinung über Keff und die ganzen Pilzpläne sagte. Leo wurde wütend und beharrte darauf, dass es ihre Sache sei und wir uns nicht einmischen sollten. Ihr sei schon klar gewesen, dass wir wieder einmal dagegen sein würden. Weil wir es ihr einfach nicht gönnen würden, ihr eigenes Ding zu machen und dabei auch noch glücklich zu sein.
Jin blickte mich Hilfe suchend an, doch ich sprang ihr nicht bei, aus Angst Leo könnte dann wieder ihre Sachen packen und verschwinden. Also versuchte es Jin bei Till. "Sag du doch auch mal was!" Doch Till starrte sie nur aus rot geäderten Augen an.
Da wandte sich auch Leo ihm zu, so als ob sie ihn seit Tagen zum ersten mal wirklich wahrnehmen würde. "Was ist mit dir überhaupt los?", fragte sie. "Du siehst aus wie der Tod!"
Ich konnte spüren, dass in diesem Moment alles auf der Kippe stand. Wie eine Kugel, die mittig auf einem dünnen Faden liegt, so dass es unmöglich ist zu kalkulieren, auf welcher Seite sie herunterfallen wird. Der kühle Spruch, mit dem sie ihn harsch abbügelte, um dann hinauszustürmen und sich der Situation zu entziehen, lag schon fühlbar in der Luft. Doch dann wurde ihr Blick weicher und eine Prise Mitgefühl stahl sich in die Härte ihrer Gesichtszüge. Sie ging zu Till hinüber, setzte sich neben ihn und die beiden sprachen eine ganze Weile miteinander, so leise dass Jin und ich es über das Knistern des Feuers hinweg nicht verstehen konnten. Und wir waren beide klug genug, es dabei zu belassen.