Der Geheime Ort
Also gut, wenn ihr es wirklich wissen wollt... Dies ist die Geschichte, wie Leo und ich Seelengeschwister wurden. Zumindest meine Version davon. Vielleicht würde Leo etwas ganz anderes erzählen.
Als wir uns das erste mal begegneten waren wir schrecklich jung. Fast noch Kinder. Es war mir völlig unbegreiflich, warum sie sich mit mir abgab. Ich war es gewohnt, alle zu verabscheuen und auch von allen verabscheut zu werden. Und dann war da plötzlich Leo und sie war schön, klug und traurig. Warum sollte so jemand ihre Zeit mit mir verbringen wollen? Das ging mir nicht in den Kopf. Sie lebte damals im Stift - das war eine Art Internat mit angeschlossenem Jugendheim. Dort gingen Dinge vor sich, die ich bis heute nicht ganz begreife. Doch mir war schnell klar, dass hinter diesen hohen Mauern der Ursprung all der Dunkelheit in Leo lag. Manchmal waren ihre Wangen bunt und geschwollen, manchmal ihre Unterarme frisch verbunden.
Wir hatten also beide unseren Schmerz, waren beide auf ganz unterschiedliche Weise auf der Flucht, und das war es wohl was uns verband. Wir sprachen nie darüber, höchstens in Gedichten oder Liedern, zu denen wir auf schlecht gestimmten Gitarren schrammelten. Es gab einen geheimen Ort, an dem wir uns fast täglich trafen. Eine von außen uneinsehbare Stelle am Ufer des Sees. Dort gab es Enten, die wir mit altem Brot fütterten, und Libellen so groß wie kleine Drachen. Während also die Dorfjugend auf Bierbänken tanzend ihre Jungfräulichkeit verjubelte saßen wir am See, hörten Soko und Neutral Milk Hotel und fühlten uns gemeinsam allein.
Einmal hatte Leo eine verschlissene Sporttasche dabei. 'Ich geh da nicht mehr zurück.', sagte sie. In ihren Augen flackerte eine Mischung aus Trotz und Horror und da wurde mir klar, dass das mehr war als eine fixe Idee. Es gab keine andere Option. Zurückzugehen war schlicht nicht denkbar. Natürlich würde man nach ihr suchen. In einem Dorf, wo jeder jeden kennt, verschwindet man nicht einfach so. Am Waldrand gab es eine verwilderte Brache, wo sich Löwenzahn und Stacheldraht über den eingestürzten Mauern ineinanderkrallten. Dort fanden wir zwischen den Trümmern den Zugang zu einem alten Kartoffelkeller, der noch ziemlich intakt war. Für die nächsten Monate war ich also der Einzige, der wusste, wo Leo war. Ich brachte ihr Knäckebrot, Toilettenpapier und Kerzen, ich belog die Polizei und die Sozialarbeiterin. Wenn es regnete saßen wir gemeinsam in der Dunkelheit und lauschten dem Prasseln als wäre es Meeresrauschen. Gut möglich dass wir beide nachher nie wieder so glücklich waren wie damals. Leo flocht kleine Armbänder aus Bucheckern, getrockneten Maiskörnern und den Fäden ihres sich langsam auflösenden Hemdes und wir trugen sie Tag und Nacht, wie Amulette gegen die Einsamkeit und die Gleichglütigkeit und was uns sonst noch alles unerträglich war.
Irgendwann hörte man auf, nach Leo zu suchen und sie konnte sich wieder freier bewegen. Das war eine gute Sache, aber nun wurde alles komplizierter. Sie lernte, dass es noch andere Menschen gab, die überwiegend auf der Straße lebten. Manchmal vergingen Wochen, in denen ich nichts von ihr hörte. Jeden Tag ging ich an ihrem Versteck vorbei und manchmal wollte ich die Hoffnung schon aufgeben. Doch irgendwann saß sie wieder im Kartoffelkeller - die Haare bunter, das Gesicht blass und dreckig, doch sie war wieder da. Ihr seht, manche Dinge ändern sich nie. Oder zumindest möchte ich das glauben.