Die alte Ursel
Heute morgen ging es Till nicht gut. Kopfschmerzen und Halskratzen. Auch ich fühlte mich ein wenig erschöpft und abgeschlagen. Womöglich fordern die immer kälteren Nächte ihren Tribut. Viel wahrscheinlicher ist es allerdings, dass wir eine Ausrede suchten, um unseren Termin bei der alten Ursel abzusagen. Nur dumm, dass wir uns gegenseitig dabei ertappten. Also blieb uns schließlich nichts anderes übrig, als einmal tief durchzuatmen und uns auf den Weg zu machen.
Es war wirklich nicht weit - vielleicht fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad. Eine richtige Adresse gibt es nicht. Das Haus liegt in einer kleinen Schrebergarten-Siedlung in der Nähe der Bahnschienen. Zwischen all den sauber gepflegten Gärten mit akkurat angelegten Blumenbeeten und grinsenden Gartenzwergen liegt ein völlig überwucherter Flecken Land. Die Nachbarn haben hohe Sichtschutzwände angebracht, um dieses optische Ärgernis so gut wie möglich aus dem Bewusstsein zu verbannen. Wir kämpften uns durchs Unterholz, wobei wir auf mindestens sieben verschiedene Katzen stießen. Ich versuchte darauf zu achten, ob sie von rechts oder von links kamen, doch die meisten bewegten sich gar nicht sondern glotzten uns nur neugierig an.
Auf einer kleinen Lichtung entdeckten wir einen alten Bauwagen. Die Vorderräder waren zusammengebrochen so dass die ganze Konstruktion sich bedrohlich zur Seite neigte. Auf dem von Moos überwucherten Dach saß ein Käuzchen und schlief. Kein Mensch war zu sehen.
'Hallo?', rief Till mit hohler Stimme und eigentlich zu leise, als dass es jemand hätte hören können.
Keine Reaktion. Aber wir erschraken sehr, als das Käuzchen sich mit ohrenbetäubendem Flügelschlag in die Luft erhob und in einer alten Eiche verschwand.
Aus eben diesem Baum fiel sogleich das Ende einer Strickleiter und nach einer Minute stieg eine hagere Gestalt aus der Baumkrone herab. Irgendwie hatte ich mir die alte Ursel anders vorgestellt. Hatte wohl insgeheim die archetypische Märchen-Hexe erwartet. Vor uns stand eine hochgewachsene und knochig dürre Frau mit dutzenden von kleinen pinken Zöpfen auf dem Kopf. Wahrscheinlich eine Perücke. Fast die ganze linke Hälfte ihres Gesichtes war von einem zackigen, schwarzen Tattoo bedeckt, das vermutlich Schlangen darstellen sollte, die unter ihren Haaren hervorkrochen. Die dreckigen und abgewetzten Klamotten sahen aus, als stammten sie aus einem Theaterfundus - Netzstrumpfhose, ein knallbunter Rock, Wollpullover und eine Federboa, die den Eindruck machte als bestünde sie aus echten Rabenfedern. Um ihren Hals baumelten etliche Amulette und Talismane. Es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen, aber da sie 'alte Ursel' gennant wird, wird sie wohl nicht mehr die jüngste sein. Doch die eisblauen Augen blitzten wach und aufmerksam in den tiefen, schwarzen Höhlen.
'Wirken nicht, die Steine und das Messer', sagte sie und ihre Stimme klang wie eine Mischung aus Sandpapier und trockenem Laub. Es war keine Frage, sondern eher eine Feststellung.
Till hob zu einer längeren Erklärung an, warum nicht Leo dabei sei, sondern ich und wie es ihm mit den bisherigen Maßnahmen ergangen sei. Doch sie brachte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen und winkte uns, mit ihr in den Bauwagen zu kommen. 'Ist kein Schlechter, dein Freund', murmelte sie, ohne uns anzuschauen. Ich brauchte eine Weile um zu begreifen, dass sie mich meinte.
Im Wagen war es duster und es roch intensiv nach einer Mischung aus Zwiebeln, verbrannten Gewürzen und Hasenstreu. Der gesamte Raum war von oben bis unten vollgestopft mit Regalen voller Krimskrams. Kleine Fläschchen und Töpfchen, Steine, Statuen, Traumfänger, Teller und Geschirr, Werkzeuge, die ich noch nie gesehen hatte und deren Zweck ich mir nicht ausmalen wollte. Die freie Fläche in der Mitte war viel zu klein für drei Personen, so dass wir unangenehm dicht beieinander stehen mussten. Im hinteren Bereich des Wagens, wo es so dunkel war, dass man nichts erkennen konnte, klopfte und strampelte irgendetwas. Hoffentlich ein Tier...
Die alte Ursel kramte eine Weile in einer Schublade herum. Till und ich traten unbehaglich von einem Bein aufs andere. Als ich schon befürchtete, sie habe uns vergessen, drehte sie sich um. Sie nahm meine Hand, betrachtete sie eine Weile und legte dann etwas kaltes hinein. Ein winziges Fläschchen, das mit einem Korken verschlossen war. Ich blickte sie fragend an. 'Letzte Chance', sagte sie, an Till gewandt. 'Enttarnen müssen wir sie, die Drud. Sonst erdrückt sie dich.'
'Aber wie...', begann Till, doch sie legte den Finger auf ihren Mund. 'Kannst dich nicht bewegen, oder? Wenn sie kommt.'
Till nickte stumm.
Sie zeigte auf mich. 'Bleibt bei dir im Zimmer, dein Freund. Aber gut versteckt. Darf ihn nicht sehen, die Drud. Du schläfst und er bleibt wach, bis sie kommt, die Drud. Dann macht er sie auf.' Sie deutete auf die kleine Flasche in meiner Hand.
'Was ist da drin?', fragte Till.
Sie winkte ab. 'Willst nicht wissen.' Sie deutete mir, sie aufzumachen. Ich löste den Korken und sofort verbreitete sich ein beißender Gestank im Raum, wie eine Mixtur aus Bärlauch, Spiritus und Katzenpipi. Schnell presste ich den Korken wieder auf die Öffnung. 'Kannst dich dann bewegen', fuhr sie fort. 'Schickst sie weg, die Drud. Sagst, sie soll am Morgen wiederkommen.'
'Und dann?', fragte Till.
'Am nächsten Morgen kommt sie, die Drud', erwiderte die alte Ursel. 'Ist dann enttarnt. Muss dann nachts nicht mehr kommen.'
Till blickte sie ungläubig an. 'Das funktioniert?'
Sie zuckte mit den Schultern. 'Manchmal.' Dann hielt sie Till ihre ausgestreckte Hand entgegen. Er starrte sie eine Weile verwirrt an, dann begriff er. Aus seiner Jackentasche holte er etwas bleiches, hervor, und legte es in ihre Hand. Es sah aus wie ein Haufen winzige Knochen.
'Mehr hab ich nicht gefunden', sagte er.
Sie grunzte, nickte aber zufrieden. Till holte Luft, um noch mehr zu sagen und in seinem Blick konnte ich die Tausend Fragen sehen, die ihm noch auf den Lippen lagen. Doch abermals brachte sie ihn mit einer knappen Handbewegung zum schweigen. 'Ihr geht jetzt', sagte sie nur. Und das taten wir.
Ich muss gestehen, dass ich noch immer nicht weiß, was ich davon halten soll. Es lässt sich nicht leugnen, dass da eine eindrucksvolle Aura war, die die Frau umgab. Aber je mehr dieser Eindruck verblasst, desto lächerlicher kommt mir der Plan vor, den sie uns mit auf den Weg gegeben hat. Wie ist euer Eindruck? Lohnt es sich, das zu probieren? Es würde immerhin eine schlaflose und ziemlich unbequeme Nacht in Tills Zimmer bedeuten. Ist das den Versuch wert?