Die Drud
Nach unserem Besuch bei der alten Ursel hatten Till und ich uns ohne viele Worte darauf geeinigt, die ganze Sache zu ignorieren. Vielleicht war es Till auch einfach unangenehm, mich zu bitten, Nachts über seinen Schlaf zu wachen. Und ich fand es ganz bequem, dies als Bereitschaft zur Untätigkeit zu interpretieren. Doch am Samstag kam Till mit roten Augen auf mich zu. Zwei weitere Nächte in Todesangst und er war nun bereit, auch dem verzweifeltsten Ausweg eine Chance zu geben.
Wir entschieden uns, dass mein Versteck unter Tills Bett sein sollte. Da es derzeit auf Ziegelsteinen steht, ist es hoch genug, dass ich bequem darunter Platz finde. Wir versuchten, es mit Hilfe von Decken und Kissen halbwegs bequem zu machen. Eine von Tills Bettdecken ließen wir so weit über die Bettkante hängen, dass man mich nicht sehen konnte.
Es wurde nicht die angenehmste Nacht, die ich jemals verbracht habe. Es war unbequem, kalt und stockdunkel. Ich hatte zwar eine Taschenlampe dabei, wagte aber nicht sie anzumachen, aus Angst mich zu verraten. Um nicht einzuschlafen hörte ich ein Hörbuch. ('The Name of the Wind' von Patrick Rothfuss) Allerdings nur mit einem Ohr, um auf jeden Fall mitzubekommen, wenn sich im Raum etwas tat. Ich hatte mir ein Glas Wasser mitgenommen, aber nicht bedacht, dass ich dann irgendwann auch auf die Toilette müssen würde. Ich kämpfte dagegen an, in der sicheren Gewissheit, dass die Drud genau dann kommen würde, wenn ich den Raum verlassen hatte. Immerhin hielt der zunehmende Harndrang mich wach.
Die Stunden schleppten sich dahin. Till schlief unruhig und warf sich oft hin und her. Aber ich bemerkte nichts, was auf die Ankunft der Drud hindeutete. Doch sie kam. Von ihr selbst nahm ich nichts wahr, kein Klicken der Türklinke, keine Schritte, kein plötzlicher Eishauch. Nur Tills Atem, der sich beschleunigte. Dann ein schauriges Wimmern, das in ein ersticktes Keuchen überging. Es war so weit. Mit zitternden Fingern tastete ich nach dem Fläschen in meiner Tasche. Als ich den Korken löste, glitt es mir aus den Händen und fiel auf den Boden. Sofort flutete ein Gestank den Raum, der mir den Atem nahm. Entsetzt schlug ich die Hände vor Mund und Nase und kämpfte gegen den Würgereiz an. Sekunden später verkündete lautes Geschrei und Gepolter, dass der Pesthauch auch bei Till angekommen war. Ich war in diesem Moment kurz davor bewusslos zu werden, weshalb ich alles nicht so gut mitbekam. Aber ich glaube mich zu entsinnen, dass zwischen all dem schrillen und panischen Geschrei auch die Worte 'Geh weg, geh weg, geh weg!!! Komm morgen wieder!' fielen. Dann übermannte mich der Würgereflex. Ich schaffte es gerade noch, meinen Kopf unter Tills Bett hervorzubringen. Dann erbrach ich mich krachend auf den Fußboden.
Als ich wieder einigermaßen klar kam, hörte ich ein merkwürdig ersticktes Geräusch hinter mir. Ich wandte den Kopf und erblickte Till. Er lachte. Tränen liefen ihm die Wangen herunter und sein Körper schüttelte sich unkontrolliert. Es dauerte bestimmt eine Minute, bis er wieder ruhig atmen konnte. Dann blickte er mich mit rot unterlaufenen Augen an und sagte: 'Das war mit Abstand das albernste, was ich jemals in meinem Leben getan habe.'
An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Also rissen wir die Fenster auf, machten das Zimmer sauber und gingen dann in die Küche für ein extrafrühes Frühstück. Wir waren beide bemüht, es uns nicht anmerken zu lassen, aber natürlich warteten wir darauf, dass es an der Tür klopfte und die Drud sich in ihrer wahren Gestalt zeigen würde. Die Sonne kroch über den Horizont, konnte aber den dicken Nebel nicht durchdringen. Wir machten uns ein zweites Frühstück und verloren immer mehr die Hoffnung. Aber dann geschah es. Es klingelte. Wir wechselten einen angespannten Blick und gingen gemeinsam zur Haustür.
Es war Leo. Wir starrten sie eine ganze Weile ungläubig an. Dann warf Till die Hände in die Luft und ging einfach kopfschüttelnd davon. Leo blickte mich fragend an. Aber ich zuckte nur mit den Schultern. 'Lange Geschichte', sagte ich. 'Komm erst mal rein.'