Feuer und Ozean
Ok, ihr liebt wirklich das Risiko...
Ich muss zugeben, dass ich insgeheim gehofft hatte, ihr würdet mich davon abbringen, Pandoras Pilz noch einmal anzurühren. Die Stimme der Vernunft sein. Aber das Gegenteil war der Fall. Sowohl auf Instagram als auch im Newsletter meint der überwiegende Großteil ich sollte Leos Angebot annehmen und die grüne Tür noch einmal öffnen. Als ich das gesehen habe, war mir ziemlich flau im Magen.
Die anderen waren von der Idee nicht gerade begeistert - um es vorsichtig zu sagen. Till hat nur den Kopf geschüttelt. Wenn ich das freiwillig mache, solle ich nicht glauben, er würde mir dann helfen, irgendwelche Druden oder noch schlimmere Kreaturen wieder loszuwerden. Und Jin hat es geradeheraus verboten. 'Wir waren uns doch alle einig, dass wir Pandoras Pilz nicht mehr anrühren, oder? Wenn wir da anfangen Ausnahmen zu machen, können wir uns gleich alle einliefern lassen. Kommt gar nicht in Frage!' Sie drückte das Gaffa, das wir um die Tür geklebt hatten, erneut fest und befestigte ein paar ihrer Haare so im Türspalt, dass sie auf alle Fälle zerreißen würden, wenn jemand sie öffnete.
Zu meiner Überraschung gab Leo gleich klein bei. Meinte, die anderen hätten wohl recht - es sei zu gefährlich. Doch später, als wir zu zweit in ihrem Zimmer saßen, öffnete sie ihre Hand und da lagen zwei halb zerbrochene, türkis schimmernde Pilze. Ich starrte sie fragend an, aber sie grinste nur wissend. Was hätte ich da tun sollen? Ich würde gern sagen, dass ich mich gewehrt habe, doch das wäre nicht die Wahrheit. Das Pilzfleisch schmeckte bitter und würzig, wie Süßholz und Nelkenpfeffer. Es dauerte nicht lange, dann ging es los.
Es fällt mir schwer zu beschreiben, was ich in den kommenden Stunden (oder waren es nur Minuten?) gesehen und gespürt habe. Wie auch immer ich es formuliere, scheint das Wesentliche nicht enthalten zu sein, fast als ob die Art und Weise wie wir die Welt mit Worten zerteilen in Pandoras Reich keine Gültigkeit hätte. Die Luft ist dort dick und schwer, fast wie eine Flüssigkeit. Die Farben wild und kräftig. Gegenstände scheinen keine feste Form zu haben - sie zerfließen und mäandern unter den Augen. Sobald man etwas fester in den Blick nimmt, verändert es sich, neue Schattierungen treten hervor und plötzlich ist aus einer Blüte ein Wolpertinger geworden und im nächsten Moment eine alte Frau, die lacht und lacht und lacht bis ihre Augen sich nach innen stülpen und den Blick auf ein eine ganze Galaxie aus bunten Schmetterlingen freigeben.
Auch das Holzmännchen war wieder da. Mein Kopf lag in seinem Schoß und es strich mir beruhigend über die Haare. Und plötzlich wusste ich, dass das Holzmännchen Jin war, aber nicht nur das. Es war auch Till. Und Hans. Und sogar ich selbst war das Holzmännchen. Es klingt verrückt, ich weiß. Und doch war es mir in diesem Moment ganz klar. Dieses Gefühl lässt sich schwer beschreiben. Als ob die Ränder des eigenen Selbst zerbröseln wie altes Toastbrot und plötzlich die Worte 'Ich' und 'Du' keine Bedeutung mehr haben. Und auf einmal brannte die Wange des Holzmännchens in hellen Flammen und ich spürte den Schmerz in meinem eigenen Gesicht, pustete und versuchte das Feuer zu löschen. Aber das Holzmännchen flüsterte nur: 'Ganz ruhig, alles ist gut. Mach dir keine Sorgen.' Und da machte ich mir keine Sorgen mehr und das Feuer wurde blau und kühl und dann zu Wasser, zu einem ganzen Ozean, in dem ich schwamm und tobte wie ein junger Delfin.
Und ja, ich habe die Melodie wiedergefunden. Aber da war ein ganzes Orchester, alles um mich herum vibrierte und summte und ich war der Dirigent. Ich konnte mit einer einzigen Handbewegung jedes Element und jede Stimme nach meinem Geschmack lenken und verbiegen. Aber zugleich war auch ich nur eine Marionette, eine willenlose Puppe, die im Strom der Musik tanzte und deren Glieder unter der Gewalt der Klänge zuckten und wogten. Es war ein himmlisches Gefühl, derart eins zu sein mit der Musik. Aber als ich sie festhalten wollte, sie einfangen um sie mitzunehmen in die reale Welt, da wurde sie schwarz und trüb und zog sich in ihr Schneckenhaus zurück. Ich rief ihr nach, beteuerte, dass ich sie nicht gefangen halten wollte, dass ich sie doch nur den Menschen in meiner Welt zeigen wollte, dass sie dort als Königin herrschen könne, weil eine solche Schönheit dort noch niemand gehört hätte. Doch düstere Schwaden vernebelten meinen Blick und ein tiefes Grollen erschütterte die Erde.
An dieser Stelle endet meine Erinnerung. Als ich erwachte ging es mir nicht gut. Mein Kopf hämmerte und mein Mund fühlte sich an wie Sandpapier. Etwas Schweres drückte mir das Blut in meinem rechten Arm ab und ich brauchte eine Weile um zu merken, dass es Leo war, die auf mir lag und mir warm und feucht gegen den Hals atmete. Eine Weile lag ich dort so, bis ich die Kraft fand, mich unter ihr herauszuwühlen. Dabei wachte sie auf, blinzelte unwillig. Ich bemerkte, dass sie meinen Pullover trug. Erst dann viel mir auf, dass mein Oberkörper nackt war und über und über mit Kugelschreiber bemalt. Feine Linien die sich zu eigenartigen Mustern und Formen vereinigten und dann wieder auseinanderströmten. In diesem Moment kam mir das alles gar nicht so merkwürdig vor, aber inzwischen frage ich mich schon, wie es dazu gekommen ist. Von Leo gab es dazu nur ein verlegenes Schulterzucken. Vermutlich werde ich es nie erfahren und vielleicht ist das auch gut so.