Hallunzinationen
Ihr erinnert euch an den eigenartigen Pilz, den Leo gefunden hatte? Niemand konnte ihn identifizieren. Aber eure eindringlichen Apelle, die Finger bzw. die Zunge davon zu lassen, habe ich mir natürlich zu Herzen genommen. Ich bin also erst ins Bett gegangen, nachdem ich Leo das heilige Versprechen abgerungen hatte, den Pilz nicht anzurühren.
Als ich am nächsten Tag runter kam, fand ich Till auf dem Boden liegend im Kaminzimmer. Sein Kopf steckte in einem großen Blumentopf, die Hände und Arme waren mit Erde und Blut verschmiert. Die Palme, deren Topf jetzt als Kopfbedeckung herhalten musste, baumelte von der Deckenlampe. Die Wände waren mit braunroten Mustern und Zeichen beschmiert. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass Till atmete, ging ich erst mal Frühstück machen.
Tills Version der Geschichte geht ungefähr so: Leo habe ihn überredet, wenigstens einen kleinen Bissen von dem Pilz zu probieren. Erst sei gar nichts ungewöhnliches passiert. Dann wurde ihm ein wenig schwummrig. Durch die Wände seien plötzlich überall kleine Würmer hereingekrochen, doch die hätten sie ganz niedlich gefunden. Eine große Lust zu Tanzen hätte ihn überkommen, aber bald auch ziemlich unangenehmes Herzrasen. Und dann seien die Druden gekommen. Stumm und schwarz und grauenhaft langsam hätten sie sich ihm genähert, um sich auf seine Brust zu setzen und ihm die Luft abzuschnüren. Die einzige Rettung sei gewesen, etwas Massives und Schweres über den Kopf zu stülpen. Dann sei man gegen sie immun, das habe Leo ihm gesagt. Für die Schmierereien an der Wand und die Palme in der Lampe hatte er auch keine plausible Erklärung.
Till ging es wirklich lausig, aber es scheint keine ernsthafte Gefahr für ihn zu bestehen. Inzwischen ist er schon wieder fast der Alte, auch wenn ihm der ganze Vorfall ernsthaft peinlich zu sein scheint. Das größere Problem ist, dass Leo seit jenem Abend spurlos verschwunden ist. Wie ihr wisst ist das im Grunde nicht ungewöhnlich, aber nach dieser Geschichte mache ich mir doch ein wenig Sorgen. Als sie heute Mittag immer noch nicht da war, ist Till losgegangen, um sie zu suchen. Ich weiß nicht, was er sich erhofft. Gut möglich, dass sie Samstag Nacht von Hallunzinationen getrieben einfach in den Wald gerannt ist. Aber drei Tage später wird sie dort sicher nicht mehr zu finden sein. Vorausgesetzt sie lebt noch. Wir haben keinen Anhaltspunkt, wo sie sein könnte. Es bleibt nur, darauf zu Vertrauen, dass sie wie jedes mal irgendwann wieder auftauchen wird.