Küchendebatten
Neulich bei uns in der Küche:
(Ich habe alles aus dem Gedächtnis aufgeschrieben, also nagelt mich nicht auf einzelne Worte fest.)
Till: Schade, dass meine Haare zu kurz sind. Ich hätte ja langsam gute Lust, mir Dreadlocks machen zu lassen.
Jin: What?!?
Till: Es ist der Reiz des Verbotenen. Wenn etwas aus rein ideologischen Gründen tabuisiert wird, krieg ich einfach Lust, es gerade deshalb zu machen.
Jin: Und dass du damit auf den Gefühlen aller People of Color herumtrampelst, wär dir natürlich egal.
Till: Sag mal ehrlich: Würde es dich wirklich verletzen, wenn ich mir Dreadlocks machen lassen würde?
Jin: Äh, ja!? Das ist eine Frisur, die in schwarzen Communities seit Jahrhunderten verbreitet ist. Leute wurden dafür aufs Härteste diskriminiert, als unhygienisch und unkultiviert beschimpft. Und es ist einfach so typisch - irgendwann kommen dann Weiße und denken: 'Das ist doch eigentlich ganz hübsch, das könnten wir doch auch mal machen - aber bitte ohne den ganzen Diskriminierungs Shit.' Oder man macht es halt wie du 'gerade deshalb', einfach nur um zu provozieren und zu verletzen. Das finde ich echt widerlich.
Till: Aber bei Licht betrachtet ist das doch einfach Missgunst? Keiner Person of Color geschieht doch ein Leid dadurch, wenn Weiße mit Dreadlocks rumlaufen. Man findet es einfach unfair, dass die das ohne Diskriminierungserfahrung machen können und man selber nicht.
Jin: Ich erzähl dir gleich was von 'Missgunst', Till! Stell dir vor du musst dir dein Leben lang Sprüche und Affengeräusche anhören, wirst bei jeder Polizeikontrolle rausgezogen und bist auch jedes mal diejenige, die sie noch da behalten und mit der sie jeden verkackten Drogentest der Welt machen. Bei jeder Jobbewerbung wirst du aussortiert sobald sie dein Foto sehen. Und du weißt, du kannst das nicht ablegen wie ne Frisur, das bleibt einfach dein ganzes beschissenes Leben lang so. Und dann kommt einer und sagt: 'Schau her, wir haben euch Jahrhunderte lang ins Gesicht gespuckt, aber jetzt leih ich mir mal kurz eure Frisur und eure Musik. Als ihr das gemacht habt, war das ja irgendwie keine richtige Kultur. Aber wenn ich es mache, ist es schon ziemlich cool.' Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?
Till: Ok, ich gebe zu, psychologisch ist es verständlich. Aber der Punkt, der mir Unbehagen bereitet, ist eigentlich ein anderer. Diese Betonung der Gruppenzugehörigkeit - ist das nicht im Kern ziemlich reaktionär? Eigentlich wollen wir doch hin zu einer Welt, in der die Hautfarbe so was ist wie die Augenfarbe. Jeder hat eine und natürlich macht es auch irgendwie einen Unterschied. Aber niemand würde auf die Idee kommen, den Wert eines Menschen danach zu bemessen. Oder auch nur davon auf irgendwelche anderen Eigenschaften oder Fähigkeiten zu schließen. Aber wenn wir jetzt sagen 'Diese Frisur darfst du nur mit der passenden Hautfarbe tragen', dann bewegen wir uns doch in die entgegengesetzte Richtung. Der aktuelle identitätspolitische Trend stellt die Zughörigkeit zu einer ethnischen Gruppe über das Individuum. Und das ist doch eigentlich das Narrativ der politischen Rechten, welches außerdem in der Vergangenheit auf dem Weg zu einer friedlicheren und gerechteren Welt nicht wirklich geholfen hat.
Jin: Wenn du eine friedlichere und gerechtere Welt willst, wäre es ja ein erster Schritt, aufzuhören, dich wie ein Arschloch zu benehmen und die Gefühle deiner Mitmenschen zu respektieren.
Till: Da hast du grundsätzlich natürlich Recht. Aber es gibt eben auch Gefühle, die man selbstkritisch hinterfragen muss. So wie wenn ich meine Ex mit einem neuen Typen sehe. Das fühlt sich natürlich scheiße an und ich wünsche dem Kerl die Pest an den Hals. Aber bei näherer Betrachtung muss ich doch erkennen, dass das kein sehr rationales Gefühl ist. Es wird ja nichts besser dadurch. Und genauso verhält es sich doch wenn du jemanden mit Dreadlocks siehst und dich verhöhnt und herabgesetzt fühlst. Vielleicht fühlt es sich schmerzhaft an. Aber anstatt ihm zu sagen, dass er diese Frisur nicht tragen darf, solltest du dich vielleicht fragen, ob dieses Gefühl wirklich rational begründet ist. Ich glaube wie gesagt, dass es uns in eine Welt führt, in der die ethnische Zugehörigkeit wieder an Bedeutung gewinnt. Und da wollen wir doch alle nicht hin, oder?
Jin: Es kann ja wohl nicht dein Ernst sein, dass du nach allem, was über Jahrhunderte passiert ist, den People of Color sagen willst: 'Habt euch mal nicht so. Ihr habt da halt nur so irrationale Gefühle.'
Till: In diesem einen Punkt vielleicht schon. Ich finde, in einer Welt, in der wir uns gegenseitig respektieren und ernst nehmen, muss man sich auch so viel Ehrlichkeit zumuten können. Aber natürlich ist viel viel mehr geschehen, die schrecklichsten Dinge, und das muss auch klar ausgesprochen und aufgearbeitet werden und vor allem muss es endlich aufhören. Aber man muss halt richtig darauf reagieren und nicht mit sinnlosen Tabus, die nichts besser machen und eigentlich den Reaktionären und Rechtspopulisten in die Karten spielen.
Aber die letzten Sätze hat Jin wohl schon gar nicht mehr gehört, denn da war sie schon wutentbrannt aus der Küche gestürmt.
Wie seht ihr das? Ist es ok, als Weißer Dreadlocks zu tragen? Oder ist das zumindest unsensibel?