Launen
Wir proben zur Zeit einen neuen Song. Die Melodie dazu kam mir wie so oft auf dem Fahrrad in den Kopf. Ich mag sie sehr gern. Sie hüpft verspielt durch Schluchten und Täler wie eine junge Gämse. Ich habe auch schon Ideen für einen Songtext. Es wird sich um ein Gefühl drehen, das ich schon mein Leben lang in mir trage. Doch noch wollen die richtigen Worte nicht zu mir kommen.
Eigentlich bräuchte ich Leo zum Texten. Doch sie ist nicht in der richtigen Stimmung - um es vorsichtig auszudrücken. Ich habe ihr von meinen Träumen erzählt, doch ihre Reaktion war schroff. 'Und was willst du mir damit sagen?' Ich erwiderte, dass ich einfach ihre Meinung dazu hören wollte. Da meinte sie nur: 'Ach, lass mich zufrieden mit deinem kranken Scheiß.'
Später, in der Probe, war sie unausstehlich. Zu Till sagte sie, er spiele Gitarre wie ein Baby. Mein albernes Gekrächze tue ihr in den Ohren weh. Und überhaupt kotze es sie einfach nur an, wie sich hier alle selbst feiern würden, obwohl wir nur ein Haufen erbärmlicher Würstchen seien. Sie weiß sehr genau, wo sie pieksen muss, damit es weh tut. Irgendwann platzte Jin der Kragen und sie warf sie einfach raus. Leo ging. Und wir saßen da zu viert und uns wollte nicht mehr wirklich was einfallen.
Eigentlich war ich sicher, dass Leo nach dieser Aktion einmal mehr verschwinden würde. Umso überraschter war ich, als ich sie später im Kirschbaum sah. Mit einem Messer saß sie dort und schnitt Blatt für Blatt alles Grüne ab. Ich wollte hingehen und mit ihr sprechen. Doch dann kam mir der Gedanke, dass es vielleicht besser wäre, wenn der Kirschbaum ihre Laune zu spüren kriegt und nicht ich. Und wenn ich mir den Baum - oder das was von ihm übrig ist - heute morgen ansehe, war das vermutlich eine gute Idee.