Motorengeräusch
Ich hatte ja bereits erwähnt, dass die Schneckensalbe der alten Ursel sich im Kampf gegen Tills Brandmal bisher als wenig wirkungsvoll erweist. Die Haut verfärbt sich dort wo sie aufgetragen wird lila-schwarz und die Narbe tritt in leuchtendem Orange hervor. Eigentlich ist sie also jetzt noch viel deutlicher zu sehen als vorher. Und Tills Gesicht sieht wirklich nicht schön aus mit der dunkel verfärbten rechten Hälfte. Die alte Ursel machte nur geheimnisvolle Andeutungen, als wir ihr am Telefon davon erzählten. Meinte, sie müsste sich das mal aus der Nähe ansehen.
Verständlicher Weise wollte Till nicht allein dorthin, also erklärte ich mich bereit, ihn zu begleiten. Es war warm und roch nach Frühling und wir nahmen die Räder. Auf der Landstraße näherte sich von hinten ein grollendes, aufgeblasenes Motorengeräusch. Das Fahrzeug - ein quietschgelber VW Golf - wurde langsamer und rollte schließlich direkt neben uns her. Die Scheibe fuhr herunter und gab den Blick auf zwei sonnenbebrillte, grinsende Visagen wieder. Mein Herzschlag beschleunigte sich und setzte dann fast aus, als der Beifahrer - ich schwöre, es ist wahr - eine verdammte Armbrust in Anschlag brachte. Einem Instinkt folgend riss ich den Lenker herum. Mein Fahrrad brach durchs Unterholz, blattlose Holunderzweige peitschten durch mein Gesicht und dann hatte ich alle Mühe, mich im Sattel zu halten, während ich über Wurzeln und Tannenzapfen hinweg den Abhang hinunterrumpelte. Mit einem diabolischen Surren zischte ein Bolzen nur knapp über meinen Kopf hinweg und schlug krachend in einen Baumstamm ein. Neben mir hörte ich Till hysterisch fluchen. Wir traten beide in die Pedale so schnell es der Waldboden erlaubte. Es ging durch ein paar junge Fichten hindurch, dann einen steilen Abhang hinunter. Unten plätscherte ein kleiner Bach, aber es war zu spät, um zu bremsen. Das Wasser war nicht tief, aber der Aufprall auf den großen, runden Kieselsteinen umso schmerzhafter.
Panisch blickte ich mich um und sah Till, der den Finger auf den Mund gelegt hatte. Das eiskalte Wasser brachte mich langsam zurück in die Realität. Alles war ruhig bis auf das Rauschen der Blätter und das sanfte Plätschern des Baches. In der Ferne glaubte ich röhrendes Motorengeräusch zu hören? Aber was bedeutete das? Hatten unsere Verfolger die Jagd aufgegeben und waren einfach weitergefahren? War der Kerl mit der Armbrust ausgestiegen und hinter uns her? Fuhren sie woanders hin, um uns den Weg abzuschneiden? Wir blieben noch eine ganze Weile im Wasser sitzen, weil wir es nicht wagten, ein Geräusch von uns zu geben. Doch nichts regte sich außer einer Amsel, die uns den Schrecken unseres Lebens einjagte.
Wie durch ein Wunder schienen unsere Fahrräder einigermaßen heil geblieben zu sein. Wir kamen schnell überein, alle Straßen zu meiden und den Rest des Weges auf Wald- und Feldwegen zurückzulegen. Es war nicht mehr weit bis zum Garten der alten Ursel, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Immer wieder war in der Ferne Motorengeräusch zu hören. Und wenn wir größere Straßen überqueren mussten, hielten wir vor Anspannung den Atem an. Till hatte sich sein rechtes Knie bei unserem Sturz verstaucht und wir kamen nur langsam voran. Doch zu unserer großen Erleichterung erreichten wir unser Ziel ohne weitere Vorkommnisse.
Die alte Ursel saß vor ihrem windschiefen Bauwagen und zerrieb mit einem kleinen Mörser getrocknete Käfer zu feinem Staub. Als sie uns erblickte wurde ihr Blick starr und eisig. Ihre Miene war zunächst schwer zu deuten. Dann krächzte sie mit hohler Stimme: 'Weg!' Nur dieses eine Wort. Aber als wir nicht reagierten, fand sie schnell ihre Stimme wieder. 'Weg! Weg! Schaut, dass ihr weg kommt! Schleicht euch!', kreischte sie schrill. Sie stand auf und packte einen Stab, auf dessen Spitze der bleiche Schädel eines Steinbocks aufgespießt war. Mit diesem bewaffnet, ging sie auf uns los. Wir ergriffen hastig die Flucht. Noch als wir die Gartentür wieder hinter uns geschlossen hatten, hörten wir sie hysterisch schreien: 'Weg, weg, weg! Ihr bringt ihn mir nicht in den Garten, den Teufel! Ihr nicht, oh nein!!!'
Fragt nicht nach dem Rückweg. Es war schon dunkel, als wir durchgefroren und zerschunden zu Hause ankamen. Doch schlimmer als die großen und kleinen Blessuren war die Fassungslosigkeit. Was ist los mit diesen Leuten, die einfach so Jagd auf wildfremde Menschen machen - vogelfrei hin oder her? Wie weit reicht der Arm dieses ominösen Syndikats? Und was hat die alte Ursel in uns gesehen, das sie so verstört hat? Ist am Ende etwa wirklich etwas mit uns verkehrt? Könnt ihr euch einen Reim auf all das machen?