Nelkenpfeffer
Kennt ihr die Geschichte von der Büchse der Pandora? Alle Übel der Welt enthielt sie der Sage nach. Und einmal geöffnet konnte Pandora das ganze Zeug leider nicht wieder hineinstopfen, weshalb die Welt heute so ist, wie sie eben ist. (Warum auch immer es in diesen alten Geschichten immer eine Frau ist, die das Böse in die Welt bringt...)
Warum erzähle ich euch das? Es geht natürlich um die grüne Tür. Mit überwältigender Mehrheit habt ihr euch dafür ausgesprochen, sie zu öffnen. Es wäre also leicht, einfach alles auf euch zu schieben. Aber in Wahrheit war es natürlich vor allem meine eigene Neugier, die mir keine Ruhe gelassen hat. Gestern Abend konnte ich einfach nicht einschlafen. Eigentlich wollte ich mir nur ein Glas Wasser holen, doch als ich dann in der Küche war, wusste ich dass dies der perfekte Moment war. Ich linste noch einmal hinüber ins Kaminzimmer um sicher zu sein, dass die anderen schliefen. Auf einmal fühlte ich meinen Herzschlag durch meinen Schädel wummern.
Ich musste ordentlich drücken, bis sich die Klinke bewegte. Mit einem viel zu lauten Geräusch sprang die Tür einen Spalt auf. Als erstes schlug mir ein Geruch entgegen - modrig, süßlich und irgendwie auf eine aufregende Weise würzig. Ein bisschen wie Nelkenpfeffer. Ich hatte eine Taschenlampe griffbereit, doch ich brauchte sie gar nicht. Ein sanftes violett-blaues Glühen beleuchtete so etwas wie einen Gang, doch bereits nach ein oder zwei Schritten ging es nicht mehr weiter. Irgendetwas blockierte den Weg. Alles war mit einem vielfach verästelten und verschnörkelten Gitternetz überzogen, das diesen violetten Schimmer ausstrahlte. Dahinter waren irgendwelche Strukturen und Formen zu erahnen, die sich aber permanent zu verändern schienen, fast als blicke man in den Schlund eines gigantischen Lebewesens. Ich machte vorsichtig einen Schritt hinein. Der Boden war weich und glitschig und der würzige Geruch umhüllte mich dick und schwer. Zögernd streckte ich meine Hand nach dem glühenden, fleischigen Gebilde aus, das die Wände überwucherte und sich vor mir derart verdichtete, dass an ein weiterkommen nicht zu denken war. Es fühlte sich warm, feucht und schleimig an. Ich erschauderte, zwang mich aber, die Augen nicht abzuwenden. Und plötzlich erkannte ich, was das war. Pilze. Hunderte, wenn nicht tausende, große und kleine, die in einem unüberschaubaren Geflecht aus den Wänden wucherten, ihre türkislauen Kappen überzogen mit jenen violett leuchtenden Schnörkeln. Und ich wusste sofort, dass ich einen solchen Pilz schon einmal gesehen hatte.
Keuchend schlug ich die Tür wieder zu. Versicherte mich, dass die anderen immer noch schliefen. Riss die Fenster auf, um den modrigen Geruch aus der Küche zu kriegen. Vielleicht kann der eine oder andere meine Reaktion nicht nachvollziehen. Viele von euch sind ja neu hier. Wenn ihr verstehen wollt, geht doch gern einmal in unserem Archiv auf Pilzsuche. Lest nach, welche Ereignisse in Gang gesetzt wurden, nachdem das letzte mal ein solcher Pilz in unserem Haus gesehen wurde. Dann werdet ihr verstehen, warum ich in dieser Nacht keinen Schlaf mehr gefunden habe.
Auf keinen Fall darf Leo davon erfahren. Und auch bei Till könnten alte Wunden wieder aufspringen. Das Problem ist nur, dass die Tür so grün ist und so schwer geheim zu halten. Und wenn ich sie irgendwie verstecke oder blockiere, lenke ich doch erst recht die Aufmerksamkeit auf sie. Momentan scheint es mir die beste Option zu sein, einfach so zu tun als sei nichts gewesen und zu hoffen, dass die anderen die Tür weiterhin ignorieren. Ich tue mein bestes, muss aber gestehen, dass mich die Sache sehr nervös macht.