Paranoia
Neulich war ich mit Till in der Stadt. Ava hatte uns eingeladen. Sie wollte uns mit einer Freundin bekannt machen, die bei einem größeren Musikverlag arbeitet. Also aßen wir viel zu süßen Karottenkuchen, tranken viel zu teuren Kaffe und gaben uns alle Mühe, wie die Popstars von morgen zu wirken. Ich glaube, es war ein großer Reinfall. Ich selbst bin ohnehin völlig ungeignet für Smalltalk jeglicher Art. Und Till begann kurz nach unserer Ankunft einen längeren Monolog über den Einfluss von Songtexten auf das Melodieempfinden und die daraus abzuleitenden Implikationen für Bands, die sich entschließen, in unverständlichem Kauderwelsch zu singen. Nach einer Dreiviertel Stunde fiel unserer Gesprächspartnerin plötzlich ein wichtiges Meeting im Glockenbachviertel ein, das sie auf keinen Fall verpassen wollte, und wir blieben allein zurück.
Ich würde all das gar nicht erwähnen, wenn nicht auf dem Rückweg etwas seltsames passiert wäre. In der S-Bahn saß uns ein komischer Typ gegenüber, hager und kahlköpfig, mit abgetragenem Markenanzug und Augenklappe. Mit seinem gesunden Auge fixierte er unentwegt Till. Als sei das nicht unheimlich genug, begann er nach ein paar Stationen hysterisch zu gackern, so laut, dass der ganze Wagon die Köpfe drehte.
Wir waren froh, als wir endlich aussteigen konnten. Doch von da an waren wir nicht mehr allein. Wir wurden beobachtet. Ich kann nicht genau sagen, von wem und wie. Manchmal wirkte es, als wäre niemand in der Nähe, aber das Gefühl blieb. Und kurze Zeit später tauchte plötzlich wie aus dem Nichts wieder jemand auf. Ein bulliger Kerl mit Bomberjacke und Sonnenbrille. Ein kanariengelber, tiefer gelegter VW Golf mit Schweizer Kennzeichen. Immer wieder die selben Gestalten, auf dem kompletten Weg nach Hause. Ich weiß, man kann sich in so etwas hineinsteigern. Aber wir hatten beide dieses Gefühl, ohne auch nur einmal darüber gesprochen zu haben. Erst als wir die Tür unsere Hauses fest hinter uns verschlossen hatten, blickten wir uns gegenseitig an. 'What the fuck???', brach es aus Till heraus und besser hätte ich es auch nicht sagen können.
Natürlich haben wir den anderen davon erzählt. Jin´s Blick war eher mitleidig. Ich vermute, sie hält uns für paranoid. Aber Leo war verdächtig still. Kann es sein, dass sie mehr darüber weiß?