Sporen
Gestern Nacht war die Gelegenheit perfekt. Leo war mal wieder verschwunden. Auch spät Abends noch keine Spur von ihr. Also die einmalige Chance, sich um unser Pilz Problem zu kümmern, ohne dass sie etwas davon mitkriegt. Um auch Till damit nicht zu belasten, beschloss ich, das Ganze still und heimlich in der Nacht anzugehen. Stellte mir also den Wecker auf Mitternacht. Wir schlafen zur Zeit ja alle (bis auf Hans) im Kaminzimmer. Ich überprüfte kurz, dass Till noch fest schlief und schlich dann hinüber in die Küche.
Zuerst bemerkte ich es in meinem schlaftrunkenen Zustand nicht. Doch dann fuhr mir der Schreck in die Glieder. Die grüne Tür stand offen. Schnell tappte ich hinüber zur Küchentür, um zu verhindern, dass der Geruch in die Eingangshalle hinaus zog. Fast wäre ich mit Jin zusammengestoßen, die im selben Moment hereinkam. Wir zuckten beide zusammen und Jin stieß einen gedämpften Schrei aus. Als sich unser Herzschlag wieder halbwegs beruhigt hatte, blickten wir uns an - und langsam dämmerte es uns. Offenbar hatten wir beide die selbe Idee gehabt. Jin hatte einen Spaten in der Hand und vor der Küchentür wartete bereits eine Schubkarre.
Also holte ich mir auch passendes Werkzeug und wir machten uns an die Arbeit. Mit Schaufeln und Messern stachen und schabten wir das Pilzgewucher von den Wänden. Die schwammigen Pilzkörper brachen mit dumpfem Knacken. Schimmernde Lamellen stülpten sich nach außen. Floureszierender Schleim troff uns von den Händen und das modrig würzige Aroma machte die Luft schwer. Es war eine Erleichterung, dass Jin dabei war. Nicht nur dass es zu zweit schneller ging, es war auch ein gutes Gefühl, das Geheimnis der grünen Tür nicht mehr allein zu tragen. Unsere Laune stieg mit jeder Ladung, die wir draußen an der Feuerstelle abluden und bald saßen wir kichernd und glucksend zwischen den zerborstenen Pilzresten. Vielleicht hätten wir besser Masken tragen sollen, denn ich merkte, dass mir die in der Luft zirkulierenden Sporen auf eine nicht unangenehme Weise den Verstand vernebelten.
Es wollte einfach kein Ende nehmen. Der große Zeiger der Küchenuhr war bereits an der Zwei vorbeigewandert und noch immer hatten wir eine undurchdringliche Wand aus dampfendem Pilzfleisch vor uns. Wie manisch trieben wir unsere Spaten in die glibbrige Masse. Dann plötzlich etwas Hartes. Eine Wand? Nein, das war Holz. Alt und knorrig, mit dunkler, breiter Maßerung und verschnörkelter Form. Was war das? Vorsichtig grub ich mit den Händen weiter, um nichts zu beschädigen. Legte eine knubbelige Schulter frei, einen Arm und ein Stück Hals. War das eine Statue aus Holz? Als ich wieder hinschaute, bewegte sich plötzlich alles. Das Pilzfleisch brodelte und blubberte wie kochende Suppe. In der Mitte ein Loch und hindurch konnte ich das Holzmännchen sehen, dass mir zuwinkte. Mühsam zwängte ich mich durch die Öffnung und folgte ihm, tiefer in den Korridor hinein. Die Wände glitzerten und flimmerten wie kaputte Bildschirme. Ich schaute nach oben und da waren die Sterne. Aber das waren gar keine Sterne. Es waren kleine Blumen, die aufblühten und in Sekundenschnelle wieder verblühten. Eine Weile lag ich auf dem Boden und betrachtete fasziniert das Schauspiel. In jeder Blume ein ganzes Universum. 'Ich hallunziniere' - schoss es mir durch den Kopf, aber der Gedanke hatte nichts furchteinflößendes. 'Jin?', rief ich. 'Schau dir die Blumen an.' Aber keine Antwort. Ich war allein.
Dann fielen plötzlich bunte Tropfen auf mich herab und ich sah, dass die Blumen weinten. Oder schmolzen - so genau konnte man das nicht sagen. Ich rappelte mich auf. Alles war jetzt sehr dunkel, aber ich glaubte, in der Ferne die schemenhafte Figur des Holzmännchens erkennen zu können. Ich wankte in diese Richtung. Und plötzlich war da diese Melodie. Eine magische Tonfolge, die die Luft durchdrang wie goldener Honig. Nie in meinem Leben habe ich etwas vergleichbares gehört. Ich lauschte verzückt, wankte, fiel... Kaum bemerkte ich den harten Stein, der sich in meine Schläfe bohrte. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, fühlte aber etwas über meinen Rücken kriechen wie Nacktschnecken. Es machte mir nichts aus. Ich wollte einfach nur diese Melodie hören, sie inhalieren, in meinen Körper hineinziehen, bis ich nichts anderes mehr war als diese himmlische Musik. Aus den Ausgenwinkeln sah ich das Holzmännchen, das mit einem Hammer glühende Nägel in seine eigene Wange schlug. Wie wunderbar, dachte ich.
Das nächste, woran ich mich erinnere, war das Holzmännchen, das mir mit seinem Hammer auf die Schulter schlug. Sonnenlicht lag warm auf meinem Gesicht. Ich blinzelte vorsichtig. Das war gar nicht das Holzmännchen - es war Till, der sanft meinen Namen rief und an meiner Schulter rüttelte. Ein wenig dahinter saß Jin mit einem großen Glas Wasser.
Es dauerte noch Stunden, bis ich wieder ganz in der Realität angekommen war. Inzwischen bin ich immerhin so weit wieder hergestellt, dass ich diese Zeilen schreiben kann. Till und Hans haben die Küche sauber gemacht und die Pilzreste im Garten verbrannt. Aber hinter der grünen Tür ist noch jede Menge von dem Zeug. Gerade einmal zwei Schritte weit sind Jin und ich in den Korridor vorgedrungen. Und auch dort, wo wir die schleimige Masse von den Wänden gekratzt haben, beginnen bereits die nächsten schuppenartigen Pilzkörper zu sprießen. Auf diese Weise wird dem Problem also nicht beizukommen sein. Wir haben zuerst einmal die Tür mit Gaffa zugeklebt.
Immerhin scheinen Jin und ich keinen bleibenden Schaden davongetragen zu haben. Nur diese Melodie verfolgt mich hartnäckig. Natürlich erinnere ich mich nicht, wie sie geht. Es ist wie wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt, aber so sehr man auch sein Gehirn zermartert, man kommt nicht darauf welches es ist. Ich weiß nur, dass sie wunderschön und auf eine beinahe furchteinflösende Weise perfekt war. Was gäbe ich darum, sie noch einmal zu hören. Sie in einen unserer Songs einzubauen.