Nacktschnecken
Die letzten Tage war es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Was für eine Erleichterung nach all den Monaten, die wir bibbernd und in Decken eingehüllt vor dem Kamin verbracht haben. Wir waren viel im Garten, aber ehrlich gesagt nicht nur, um die milden Temperaturen zu genießen. Till hat von der alten Ursel eine Liste von Zutaten mitgebracht, die wir für sie sammeln sollen, um eine Salbe für die Narbe herzustellen. Unter anderem Schneckenschleim - und ihr ahnt nicht, wie schwer es ist, im Februar Schnecken zu finden. Die paar Exemplare, die wir unter Baumrinden oder zwischen den Schneeglöckchen entdecken konnten, sammelten wir in einer Papiertüte und bestreuten sie, wie von der alten Ursel angewiesen, mit Salz, damit sie ihren Schleim absondern. Jin brachte es nicht über sich, dem damit einhergehenden qualvolle Verenden tatenlos zuzusehen. In einem unbeachteten Moment wusch sie das Salz von den Schnecken ab und brachte sie wieder nach draußen. Woraufhin die Suche von neuem begann.
Abends treffen wir uns wieder fast täglich im Proberaum. Aber ich muss zugeben, dass ich derzeit zu nichts zu gebrauchen bin. Was auch immer wir machen, es kommt mir blass und farblos vor. Ich weiß auch woran es liegt. Die Melodie, die ich auf meinem Ausflug ins Reich von Pandoras Pilz (so haben wir begonnen ihn zu nennen) gehört habe, überstrahlt in meiner Erinnerung alles. Es tut mir leid für die anderen, die voller Elan bei der Sache sind. Aber ich kann all das Großartige, was sie ohne Zweifel beitragen, einfach nicht wertschätzen, weil ich mir einbilde, die eine, wahre Musik gehört zu haben, neben der alles andere zu einem erbärmlichen Abklatsch verblasst. An die ich mich aber nicht einmal mehr erinnern kann. Wenn ich es so schreibe, kommt es mir völlig hirnrissig vor. Und trotzdem komme ich nicht dagegen an. Wenigstens haben wir die Aufnahmen für unseren neuen Song bereits vor meinem psychedelischen Abenteuer beendet. So kann Hans daran weiterbasteln - und ich höre es mir einfach nicht mehr an, um nicht gänzlich depressiv zu werden.
In meiner Verzweiflung habe ich gestern Nacht mit Leo darüber gesprochen. Sie musste mir vorher hoch und heilig versprechen, die grüne Tür nicht anzufassen. Aber vielleicht war es dennoch ein Fehler. Leo ist nicht gut darin, Versuchungen zu widerstehen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, fällt es ja sogar mir schwer. Würde ich die Melodie wiederfinden, wenn ich dem Drang nachgebe und noch einmal in Pandoras Reich hinabsteige? Würde ich sie diesmal mitbringen können in die reale Welt? Leo denkt, dass das der einzige Weg ist. Dass ich die Melodie noch einmal hören muss, um meinen musikalischen Enthusiasmus wiederzufinden. Sie hat auch angeboten, mich zu begleiten. Vermutlich nicht ganz uneigennützig.
Was meint ihr? Sollte ich mit Leo ein weiteres mal die grüne Tür öffnen?