Wimmern und Jaulen
Es bringt nichts, es zu verleugnen - in letzter Zeit steckten wir in einer kleinen kreativen Krise. Vielleicht ist euch aufgefallen, dass ich seit Wochen kaum über Musik geschrieben habe. All das Theater um Tills Brandmal und das Syndikat hat uns mehr Energie und Fokus gekostet, als wir uns eingestehen wollten. Vielleicht deshalb hat sich am vergangenen Wochenende der Knoten gelöst. Ich kam mit einem Text in die Probe, den ich ehrlich gesagt selbst gar nicht richtig verstehe. Aber dann hatte Jin diesen genialen Einfall - eine einzelne Note auf dem Klavier, die sich ganz sanft in rasender Repetition in Trance hämmert. Und plötzlich sprudelten die Ideen. Hans zimmerte einen wuchtigen, aber vertrackten Beat zusammen. Leo schraubte so lange an unserem Moog Synthesizer herum, bis der nur noch ein Wimmern und Jaulen von sich gab, fast wie aus einer anderen Welt. Und Till haute ordentlich in die Saiten, heftig verzerrte Powerchords, die fast nach Heavy Metal klangen. Normalerweise hätte ich mich wohl niemals darauf eingelassen, aber im Zusammenspiel all dieser wiederstrebenden Elemente machte es auf einmal erstaunlich viel Sinn. Also - seid gewarnt: Unser nächster Song könnte ein wenig experimenteller werden. Ich liebe es schon jetzt!
Umso drängender stellt sich natürlich die Frage, wie wir unsere Musik künftig veröffentlichen. Auch Ava war fleißig und hat ein Treffen mit einer weiteren Plattenfirma organisiert. Gestern waren wir dort. Zuerst mussten wir geschlagene zwanzig Minuten im Vorraum warten, während aus dem Büro lautstark irgendwas von Richard Wagner erdröhnte. Ich hatte mir fest vorgenommen, diesmal einfach meine Klappe zu halten und Ava machen zu lassen. Als wir endlich in den dunklen, stickigen Raum gebeten wurden, hatte ich sofort ein komisches Gefühl. Ich konnte mich kein bisschen auf die Höflichkeiten konzentrieren, die Ava und unser Gegenüber austauschten, weil ich permanent darüber nachdachte, woher zum Teufel ich den Typen kannte. Habt ihr ihn gleich wiedererkannt? Bei mir hat es eine ganze Weile gedauert, aber dann war urplötzlich die Erinnerung wieder da: Till und ich in der S-Bahn, der stechende Blick aus einem einzelnen Auge, hysterisches Gackern. (Wenn euch das nichts sagt, lest nochmal unseren Post vom 27.01.)
Mein erster Impuls war, sofort den Raum zu verlassen. Aber ich zwang mich ruhig zu bleiben. Mister Augenklappe machte bisher nicht den Eindruck, als ob er mich erkannt hätte. Keine gute Idee also, ihn durch merkwürdiges Verhalten wie eine plötzliche Flucht auf mich aufmerksam zu machen. Ich rutschte also nervös auf meinem Stuhl hin und her und wartete auf eine Gelegenheit, Ava unbemerkt ein Zeichen zu geben, dass wir das Gespräch sofort abbrechen mussten. Doch die war viel zu sehr damit beschäftigt, über unsere zukünftige internationale Karriere zu phantasieren und beachtete mich gar nicht.
In meinem Empfinden zog sich das Gespräch endlos in die Länge. Inhaltlich kann ich mich an fast nichts erinnern, weil ich die ganze Zeit über darauf konzentriert war, so wenig wie möglich aufzufallen. Die paar mal, als ich eine direkte Frage beantworten musste, blieb ich so einsilbig wie möglich. Wo ich mich und die Band in fünf Jahren sehen würde? Wie ich unsere Kern-Zielgruppe einschätzen würde? Keine Ahnung... wer denkt sich denn solche Fragen aus? Als wir endlich raus waren, war ich völlig durchgeschwitzt. Ava dagegen wirkte rundum zufrieden. Ein bisschen gesprächiger hätte ich aber dann doch sein dürfen, meinte sie. Und warum ich überhaupt so blass sei? Es gab viel zu erklären auf der Rückfahrt.