Ach, wenn doch einmal alles einfach sein könnte. Ganz ohne Drama und schicksalsschwere Entscheidungen.
Wie geplant waren wir in der Stadt bei Doktor Guggenbichler-Alvarez. Diesen pompösen Namen trägt der Spezialist, der behauptet, Tills Brandmal mit einem einfachen operativen Eingriff entfernen zu können. Schon der Weg dorthin bereitete uns arge Kopfschmerzen. Till trug eine FFP2 Maske, die das Mal auf seiner Wange zum größten Teil bedeckte. Dennoch fühlten wir uns permanent beobachtet. Google Maps führte uns in ein Industriegebiet am Stadtrand, eine Gegend, in der wir nie zuvor gewesen waren. Zwischen Lagerhallen und alten Bahnschienen hindurch ging es in einen Hinterhof, wo Müllsäcke auf dem zerborstenen Asphalt lagen. Dort war der Eingang zur Praxis.
Eine hagere, gebückte Gestalt nahm uns in Empfang. Auf der knochigen Nase saßen die dicksten Brillengläser, die ich jemals gesehen habe. Wir beschlossen sofort, ihn von nun an nur noch Guggi zu nennen. Er kam sehr sehr nahe an Tills Gesicht heran, um sich die Sache einmal anzusehen. Runzelte die Stirn, spuckte in ein Stofftaschentuch und begann, an Tills Wange herumzurubbeln. Es kostete mich alle Mühe, mir das Lachen zu verkneifen.
Das Problem sei die dunkle Verfärbung von der Schneckensalbe, meinte er. Die Narbe könne er entfernen. Aber die Schlieren drumherum würden bleiben. Till sagte, das sei für ihn in Ordnung. Hauptsache das Huhn sei nicht mehr sichtbar. Wie es denn mit der Betäubung aussehe? Guggi kicherte trocken. Eine lokale Betäubung müsse wohl reichen. Ob Till denn sehr empfindlich sei? Was dieser nicht ganz wahrheitsgemäß verneinte.
Ehrlich gesagt: Doktor Guggi und seine Praxis machen einen mehr als obskuren Eindruck. Nach seiner Ausbildung oder gar einer Art staatlicher Zulassung wagten wir gar nicht erst zu fragen. Bezahlt werde bar und vorab, wurden wir informiert. Wir erbaten uns noch einen Tag Bedenkzeit und verließen die Praxis. Doch im Grunde waren wir bereits fest entschlossen, es zu tun. Die Aussicht, das verdammte Ding vollständig los zu werden, war einfach zu verlockend. Und da die alte Ursel uns noch immer hartnäckig ignoriert, gab es ja keine ernstzunehmende Alternative.
Doch genau das änderte sich wenige Augenblicke später. Wir waren noch nicht weit gekommen, als uns eine Frau ansprach. Verängstigt wie wir waren, hätten wir fast die Flucht ergriffen. Sie trug einen langen schwarzen Mantel und pinke Gummistiefel. Doch das auffälligste an ihr war ihr kahler Schädel, der über und über mit eintätowierten Mustern und Symbolen bedeckt war.
"Nicht erschrecken!", rief sie. Sie habe beobachtet, dass wir bei Guggi gewesen seien. Und wir sollten bloß aufpassen, keinen folgenschweren Fehler zu machen. "Der Kerl ist nicht koscher. Der arbeitet mit denen zusammen." Und auf unsere fragenden Blicke hin fügte sie - nicht ohne sich vorher mit einem kurzen Blick zu versichern, dass wir allein waren - hinzu: "Mit den Typen vom Syndikat."
Damit hatte sie unsere Aufmerksamkeit. Es gebe nur eine sinnvolle Lösung für unser Problem, meinte sie. Auch sie habe mal das Huhn getragen. Sie zeigte auf eine vollkommen von Tätowierungen überwucherte Stelle an ihrem Hals. Ihr Studio sei gleich nebenan. Till könne sich ein schönes Motiv aussuchen und dann sei die Sache erledigt. Das ging uns dann doch ein wenig zu schnell. Wir sagten ihr, wir müssten darüber nachdenken und wie wir sie erreichen könnten. Sie zuckte enttäuscht mit den Schultern. "Wie ihr wollt. Kommt einfach im Studio vorbei, wenn ihr so weit seid. Mel's Tattoo Studio - gleich drüben in der Parallelstraße. Aber passt bloß auf, dass euch niemand folgt. Wenn ihr mir die Kakerlaken in den Laden bringt, tätowier ich euch ein Hakenkreuz auf die Nasenspitze, das schwör ich euch!"
Versteht ihr unser Dilemma? Mel hat unser ohnehin schon brüchiges Vertrauen in Guggi weiter ins Wanken gebracht. Was wenn sie recht hat und er wirklich mit dem Syndikat zusammenarbeitet? Dann wäre es reiner Selbstmord, sich bei ihm unters Messer zu legen. Aber ich kann auch verstehen, dass Till keine Lust hat, sich sein halbes Gesicht volltätowieren zu lassen. Zumal es ja auch völlig unklar ist, ob man Mel vertrauen kann. Womöglich ist es genau umgekehrt und sie ist in Wirklichkeit Teil des Syndikats. Die OP bei Guggi wäre eine saubere Lösung. Wenn alles gut geht... Eines ist in jedem Fall sicher: Wir müssen das Brandmal loswerden - das Ding raubt uns den letzten Nerv.
Wie seht ihr das? Bei wem habt ihr das bessere Bauchgefühl? In wessen Hände sollen wir die Zukunft von Tills rechter Gesichtshälfte legen? Guggi oder Mel?